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Rückblick: Meisterkurs Praxis Gregorianischer Choral 2023

November 2023

Zum fünften Durchlauf des Meisterkurses Praxis Gregorianischer Choral – Von der Analyse zur Interpretation – Scholaleitung und Sologesang auf semiologischer Basis fanden sich vom 10. bis 12. November 2023 zwanzig Teilnehmende aus Deutschland, Schweiz, Kroatien und Polen in der Hochschule für katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik in Regensburg ein. Der Kurs ist eine Kooperation der Regensburger und der Rottenburger Hochschule für Kirchenmusik und steht unter der bewährten Leitung von Prof. Dr. Christoph Hönerlage und seiner Rottenburger Kollegin, Prof. Dr. Inga Behrendt. Die Teilnehmenden hatten sich im Vorfeld für unterschiedliche Möglichkeiten angemeldet, sei es für einen Solovers, für das Dirigat oder für das Mitsingen in der Schola. Dass insgesamt an drei Solovorträgen und drei Dirigaten gearbeitet wurde, spiegelt die Mischung aus kirchenmusikalisch Ausgebildeten und in konkreter Scholapraxis Erfahrenen unter den Teilnehmenden wider.

Für mich als Teilnehmer aus der Gruppe der engagierten Scholasänger ohne kirchenmusikalisches Examen war die Haupterkenntnis, dass eine historisch informierte Aufführungspraxis auf zwei Säulen aufruht:

  • die semiologische Analyse der Neumen, die uns mangels Aufnahmen aus dem 10. Jahrhundert als Fernrohr für den Blick in die damals wahrscheinlichste rhythmisch-dynamische Interpretation dienen.
  • die Arbeit am jeweiligen Text, um das Wort-Ton-Verhältnis zu erfassen, zu dessen Verständnis der Hintergrund der Kirchenväterexegese mit der Hermeneutik des vierfachen Schriftsinnes hilfreich ist.

Am Freitagabend gab Behrendt unter dem Titel „Von der Analyse zur Interpretation“ einen Überblick zu den Propriumsgesängen des 32. Sonntags im Jahreskreis. In der Information zur Liturgie war überraschend, dass die Texte des nachkonziliaren Kalenders ursprünglich in der Fastenzeit verankert waren bzw. was die „quinque prudentes virgines“ (Communio) angeht, auch in Proprien der Gedenktage einzelner Jungfrauen. Als hilfreiches Instrument für die Vorbereitung der Scholaleitung erweist sich die Seite www.gregorien.info. Für eine semiologisch orientierte Aufführungspraxis unterstrich Behrendt, wie bedeutend es ist, die Gesamtstruktur des vorliegenden Formelmaterials zu erfassen und dessen jeweilige Funktion zu erfassen. Im Vergleich mit gleichen Formeln aus anderen Gesängen lassen sich sowohl bewusste Zitate erkennen oder auch eine aus der Formelkomposition herausfallende Einzelstelle. Bei der Communio zeigt beispielsweise das Zitat des Graduale „Christus factus est“ in der Schlussphrase „Christo Domino“, dass sowohl die frühere Zuordnung zur Fastenzeit ihre Stimmigkeit hatte wie auch der Bezug zu den frühchristlichen Jungfrauen, die wie z.B. Agnes und Cäcilia als Märtyrinnen in der Nachfolge Christus gehorsam bis in den Tod waren. Die Auswahl im nachkonziliaren Kalender bedingt sich durch das Evangelium eines der letzten Sonntage im Jahreskreis, die in ihrem eschatologischen Charakter alle in den Ernst der letzten Entscheidung rufen. Beim Introitus „Intret oratio mea“ kann man in der Phrase „inlina aurem tua“ auch noch ein Zitat des Karfreitags-Tractus hören.

Hilfreich waren die ergänzenden Hinweise Hönerlages auf das Verständnis der Bibelverse in den Klöstern der uns vorliegenden frühesten Handschriften. Die patristische Exegese wurde über die gleichen Klöster ins Mittelalter weitergereicht. Für die Kirchenväter spielte vor allem die christologische Auslegung eine entscheidende Rolle. Augustinus interpretiert die „oratio mea“ des Introitus als Gebet Christi zum Vater, das in den Schrei des „Mein, Gott, warum hast du mich verlassen“ am Kreuz mündet. Vor diesem Hintergrund wird das melodische Karfreitagszitat anschaulich. Ähnlich im Graduale „Dirigatur“. Der Weihrauchopfer-Psalm 140 wird von Augustinus vor dem Hintergrund des Kreuzesopfers Christi gelesen. Das „Erheben meiner Hände“ wird mit den am Kreuz erhobenen Händen und ausgebreiteten Armen Christi als Abendopfer des Karfreitags verstanden. Der Verstehensschlüssel ist für Augustinus ist das Bild vom ganzen Leib Christi mit Haupt und Gliedern: alles, was vom Haupt (Christus) gesagt wird, gilt im Sinne der Nachfolge und existenziellen Aneignung auch von allen Gliedern (Christen).

In der konkreten Einzelanalyse waren im Blick auf die Neumen aus St. Gallen/Einsiedeln und die aus Laon jeweils Entscheidungen zu treffen, welcher man in der dynamisch-agogischen Umsetzung folgen wollte. Das war sowohl von den Solisten für ihren Vortrag wie auch von den Leitern für ihr Dirigat zu leisten. Einhellig wurde von den Teilnehmenden vermerkt, dass die Begleitung, Korrektur und Hilfestellungen zum Dirigat der Einzelnen auch für die Gruppe insgesamt lehrreich waren. Die Erkenntnis: das Dirigat kann nur harmonisch aus der verinnerlichten Analyse des Stückes in seiner Struktur und Aussage erwachsen und muss „par coeur“ zuhanden sein, um in die Hand gehen zu können.

Zum Erlebnis für alle Beteiligten wurde am Sonntag die Gestaltung der Heiligen Messe für die Gemeinde in St. Andreas, der Barockkirche direkt neben der Hochschule. Der Wechsel im Dirigat, die Beteiligung der Solisten und der textlich-semiologisch informierte Vortrag der Schola trugen dazu bei, dass Menschen den Introitus erleben konnten: „Hintreten möge mein Gebet vor Dein Angesicht!“

Dr. Ulrich Kuther

Hochschule Katholische Kirchenmusik & Musikpädagogik

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